WAS IST BILDHAUEREI?
Sie ist die Kunst des Raums und hat eigentlich nur dieses eine Ausdrucksmittel. Andere, wie Farbe oder Materialstruktur, sind speziell für die Bildhauerei recht unwesentlich, auch wenn der Betrachter es vielleicht anders empfindet. Raum ist schwer zu beherrschen, denn er ist vielfältig und kompliziert. Wo Beherrschung aber gelingt, bietet sie dem Gestalter unendliche Ausdrucksmöglichkeiten.
Raum ist Volumen, Raum ist das umgebende Nichts, welches wiederum von Volumen umgrenzt wird. Es geht darum, wie man den Raum ablesbar macht, damit man ihn erleben kann. Vielfältige Spannungsverhältnisse zwischen den einzelnen Komponenten des Raums spielen dabei eine entscheidende Rolle.
Vielfalt und Ruhe stehen gegeneinander, großvolumig z.B. als Einzelform auf weiter leerer Ebene oder kleinteilig als Struktur gegen Glätte.
Eine glatte ebenmäßig runde Form bietet dem Auge wenig Halt. Sie verschließt sich vor uns. Wir können in sie nicht eindringen, ohne sie zu zerstören. Anders ein scharfkantiger Körper. Er bekennt, wie es gemeint ist. Schroff und streng steht er vor uns.
Eine fließende glatte Form wirkt großzügig, kühl, und elegant. Dagegen scheint eine raue zerklüftete Form Geheimnisse zu bergen. Sie wirkt interessant, ohne dass sie tatsächlich etwas bekennen muss.
Gezielt im richtigen Verhältnis eingesetzt, ergeben jeweils passende Kombinationen verschiedenster Gegensatzpaaren sehr differenzierte Formaussagen, die von einem zwar ungeschulten, aber allgemein sehr aufmerksamen Betrachter recht mühelos dechiffriert werden können. Als Gestaltungsmittel stammen sie schließlich alle aus der Natur, die uns täglich umgibt. Nur die Gewichtung der Kombinationen ist eigentliche Erfindung des Künstlers und ermöglicht es, spezielle Aussage sichtbar zu machen.
Der figürliche Bildhauer kann all das und noch viel mehr auch für die Darstellung der menschlichen Figur einsetzen. Er arbeitet auch mit Körperproportionen, Mimik und Gestik.
Wir glauben zu wissen, wie ein durchschnittlicher Mensch proportioniert ist. Man hat ermittelt, dass absoluter Durchschnitt im Allgemeinen unser Schönheitsideal ist. Diese Sicht vergrößert zwar unseren Akzeptanzbereich, ist aber auch langweilig. Doch unser Idealbild, der Durchschnittswert, ist so vollkommen selbst in der Natur wohl nur in den seltensten Fällen zu finden. Abweichungen vom Idealbild machen die Individualität aus. Wir hoffen, aus körperlichen Unterschieden auf charakterliche und mentale Unterschiede schließen zu dürfen und haben in vielen Fällen damit auch recht. Der eigene Körper ist das erste Signal was ein Mensch, ob er nun will oder nicht, an seine Umwelt aussendet. Er ist ein Stück weit unbestechlich. Das Leben konnte sich schon mehr oder weniger tief in ihn eingegraben. Erst dann nehmen wir Bewegung, Stimme, Geruch und Gedanken wahr und sammeln aus all diesen ebenso persönlichen Merkmalen weitere Zusatzinformationen über unser Gegenüber. Gelangen wir zu richtigen Schlüssen, hilft das, den menschlichen Umgang einfacher und besser zu gestalten.
Auch der figürliche Bildhauer nimmt als erstes den Körper eines Menschen wahr. Er sieht ihn in seinen Besonderheiten vielleicht sogleich etwas deutlicher, als ein ungeschulter Betrachter. Beschränkt sich sein Interesse auf die Schönheit des menschlichen Körpers, reicht dieser erste Blick und er kann sofort mit der Arbeit beginnen. Arbeitet der Bildhauer aber thematisch, muss er wesentlich genauer hinschauen und alles sorgfältig überdenken, denn dann spielen auch all die anderen Signale, die ein Mensch aussendet und die ein Bildhauer scheinbar gar nicht verarbeiten kann, eine entscheidende Rolle für ihn.
Der Bildhauer kann keine Bewegung darstellen. Das ist das Feld der darstellenden Künste. Er kann keine Töne wiedergeben. Das ist das Feld der Musik. Er kann keine Gedanken wiedergeben. Das ist das Feld der Literatur. Er kann keine Gerüche wiedergeben. Doch das ist kein Handicap, denn in diesem Bereich nehmen wir Menschen ohnehin wenig wahr. Aber er kann auch wenig mit Farbe bewirken. Er kann keine größeren Szenen darstellen. Dafür ist Bildhauerei viel zu aufwendig. Das bleibt Malerei und grafischen Künsten vorbehalten. Ja, was bleibt dem Bildhauer dann überhaupt noch, wenn er etwas mehr erzählen möchte, als die unmittelbare Körperlichkeit?
Der Bildhauer, den menschliche Befindlichkeiten interessieren, muss einen Teil der Wirklichkeit menschlicher Körper wirksam durch Illusion ersetzen, um daraus seine Geschichten zu formen. Gründlichstes Beobachten ist Voraussetzung, wenn es ihm gelingen soll, zum Kern einer Sache vorzudringen. Kann er einen Körper zum Symbol für die gewünschte Aussage verdichten, dann ist es ihm möglich, fast jedes Thema zu bearbeiten. Der Betrachter denkt mit, wenn er mit einer eindeutigen, konsequenten Aussage konfrontiert wird und ergänzt das nicht Darstellbare in seinem Kopf aus eigenem Erfahrungsschatz. Von der Detailqualität der plastischen Umsetzung einer Idee hängt es ab, ob der Betrachter trotz starker Umformung immer noch das Gefühl hat, das Abbild eines lebendigen Menschen vor sich zu haben.